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BVerwG verhandelt am 28.09.2023 erneut über Klagerecht von Umwelt- und Naturschutzverbänden bei Zielabweichungsverfahren

25. September 2023 | Flächenschutz, Landwirtschaft, Lebensräume

Das Bundesverwaltungsgericht verhandelt am 28.09.2023 erneut über das Klagerecht von Umwelt- und Naturschutzverbänden bei Zielabweichungsverfahren.

Hintergrund:

Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet am 28.09.2023 über das Klagerecht der Umwelt- und Naturschutzverbände bei Zielabweichungsverfahren. Diese Entscheidung kann bundesweit weitreichende Konsequenzen für die Landes- und Regionalplanung haben.


1. Über welche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung wird das Bundesverwaltungsgericht entscheiden?

Am 28.09.2023 wird das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig entscheiden, ob nach dem Umweltrechtsbehelfsgesetz anerkannte Umwelt- und Naturschutzverbände Entscheidungen zu „Zielabweichungen“ von Regionalplänen beklagen dürfen. Kläger ist der hessische Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND Hessen). Anlass der Klage ist die Zielabweichung des Regierungspräsidiums Darmstadt für ein Logistikzentrum von Rewe in Wölfersheim (Wetteraukreis).

Die Entscheidung hat eine hohe und grundsätzliche Bedeutung im Umweltrecht. Hat der BUND mit seiner Klage Erfolg, dann können Abweichungsentscheidungen von Regionalplänen gerichtlich kontrolliert werden.

Regionalpläne beinhalten das Ergebnis und insbesondere die Zielvorstellungen eines oft jahrelangen Abstimmungsprozesses für die Entwicklung der Landnutzung einer ganzen Region über den Zeitraum von nicht selten mehr als einem Jahrzehnt. Von diesen abgestimmten Zielen werden recht häufig für konkrete Einzelvorhaben, die diesen Zielen des Regionalplans widersprechen, Abweichungen zugelassen. Denn ein gegen die Ziele der Regionalplanung verstoßendes Vorhaben ist grundsätzlich unzulässig. Für die Zulässigkeit eines Einzelvorhabens braucht es also entweder eine Änderung des Regionalplans, die gegebenenfalls auch nur räumlich begrenzt sein kann, oder aber eine Zielabweichungsentscheidung.

Allerdings unterscheiden sich die verfahrens- und materiell-rechtlichen Anforderungen an eine Zielabweichung und an eine Regionalplanung sehr deutlich. Die Zielabweichung ist eine reine Verwaltungsentscheidung mit einem begrenzten Empfängerkreis nach einem nicht öffentlichen Verfahren. Sie ist – bislang – auch nur sehr eingeschränkt gerichtlich kontrollierbar. Eine Regionalplanänderung erfordert hingegen nach unionsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2001/42/EG (SUP-Richtlinie) eine Beteiligung aller Interessengruppen einschließlich der Öffentlichkeit und ist das Ergebnis einer planerischen Abwägungsentscheidung. Außerdem gibt es für eine Regionalplanänderung eine gerichtliche Kontrollmöglichkeit für anerkannte Vereinigungen als besonders hervorgehobenen Teil der Öffentlichkeit.

Folgt das BVerwG den Argumenten des BUND Hessen, dann steht den Umwelt- und Naturschutzverbänden künftig ein Klagerecht gegen Zielabweichungsentscheidungen zu. Die feststellbare „Atomisierung“ der aufwendig erstellten und abgewogenen Regionalpläne durch vielfache Zielabweichungsentscheidungen und die Aufweichung von langwierigen, komplexen und endabgestimmten Planungsentscheidungen könnte eingegrenzt werden. Der BUND rechnet also damit, dass weniger solcher Planabweichungsentscheidungen zu Lasten von Umwelt und Natur erfolgen dürften und dass die Nachhaltigkeit sowie Beständigkeit der Regionalplanung stärker in den Fokus rückt.

Gerade beim Regierungspräsidium Darmstadt (RP Darmstadt), das für den Regionalplan Südhessen verfahrensrechtlich Verantwortung zeichnet, wird das eigentlich als Ausnahme gedachte Verfahren zunehmend als Regelverfahren eingesetzt, während die gesetzlich § 6 Abs. 6 Hess. Planungsgesetz vorgesehene Fortschreibung des Regionalplans nach zehn Jahren unterblieben ist. Der für den RP Darmstadt maßgebliche Plan trat am 17.10.2011 in Kraft. Am 17.10.2021 hätte also ein neuer Plan in Kraft treten müssen. Tatsächlich ist bis heute nicht absehbar, wann die Öffentlichkeitsbeteiligung der Fortschreibung des Plans beginnen wird. Von diesem Schritt bis zum Inkrafttreten eines neuen Plans vergehen erfahrungsgemäß mehrere Jahre. Demgegenüber werden in fast jeder Sitzung der zuständigen „Regionalversammlung Südhessen“, die beim Regierungspräsidium angesiedelt ist, Beschlüsse zu Zielabweichungsverfahren gefasst. Allein in der 9. Wahlperiode des Gremiums, die am 04.10.2016 begonnen hatte, erfolgten bis heute ausweislich der Internetseite des RP Darmstadt (https://rp-darmstadt.hessen.de/infrastruktur- und-wirtschaft/regionalplanung/regionalversammlung-suedhessen/beschluesse-wahlperioden-viii- ix) mind. 34 Abweichungsentscheidungen. Fast immer gehen die Entscheidungen zu Lasten von Natur und Landschaft aus, ohne dass vom Regierungspräsidium auf die wachsenden Belastungen mit konzeptionellen Neuausrichtungen für den Schutz der verbleibenden Freifläche reagiert wird. Der BUND und andere Umweltverbände konnten sich bislang in diese Verfahren nicht effektiv einschalten, obwohl diesen Vereinigungen seit einer Rechtsänderung im Jahr 2017 ein Klagerecht für Regionalplanaufstellungs- und Änderungsverfahren per Gesetz eingeräumt wurde.

Die Beteiligung der anerkannten Naturschutzverbände an Zielabweichungsverfahren hatte der BUND Hessen von der Politik bisher erfolglos eingefordert.

Ein Erfolg der Klage hätte also nicht nur Auswirkungen auf die beklagte Zielabweichung. Ein Erfolg dürfte sich auch auf den Rechtsstreit um das geplante Baugebiet Ostfeld der Stadt Wiesbaden auswirken. Auch hier hat der BUND Klage erhoben, weil das Regierungspräsidium Darmstadt dem Wunsch der Stadt Wiesbaden zur Schaffung eines 450 Hektar großen Baugebietes gefolgt ist. Der Stadt wurde Dispens von Zielbestimmungen zum Schutz von Natur und Umwelt, die im geltenden Regionalplan Südhessen enthalten sind, erteilt.
 

2. Worum geht es im konkreten Klageverfahren?

Im konkreten Klageverfahren geht es um die Ansiedlung des REWE Logistikzentrums in Wölfersheim (Wetteraukreis). Bei dem rund 30 Hektar großen Fläche handelt es sich um besonders ertragreiche Ackerflächen, die wegen ihrer herausragenden Bodenqualität 2011 regionalplanerisch als „Vorranggebiet für Landwirtschaft“ vor einer Bebauung geschützt wurden. Nach der Zulassung der Zielabweichung soll hier eine rund 10 ha große, bis zu 30 m hohe Logistikhalle mit entsprechender verkehrlicher Infrastruktur für die Handelskette REWE errichtet werden.

Der Bau der Logistikhalle würde nicht nur wertvollste Böden für die Ernährung der Menschen unwiederbringlich zerstören. Beeinträchtigt würde u.a. die Grundwasserneubildung und der Lebensraum für gefährdete Arten wie Feldlerche und Feldhamster ginge verloren. Außerdem würden das benachbarte Vogelschutzgebiet »Wetterau« und das Landschaftsbild beeinträchtigt. Gemeinsam ist der BUND vor Ort mit dem Aktionsbündnis Bodenschutz Wetterau (dabei die ev. und kath. Kirchendekanate) und der Bürgerinitiative „Bürger für Boden“ gegen das Logistikzentrum aktiv. Weitere Informationen zur Klage gegen das Bauvorhaben: www.bund-hessen.de/nachhaltiges-hessen/flaechenschutz/rewe-logistikzentrum- wetterau/hintergrund/

Im Oktober 2017 erging als erster Schritt in einer ganzen Kette von erforderlichen Behörden- und weiteren Planungsentscheidungen für die rechtliche Zulässigkeit dieses Vorhabens der Bescheid des Regierungspräsidiums Darmstadt zur Abweichung von den bisherigen Zielen der Regionalplanung. Diese diente dazu, dass die erforderlichen Bauleitpläne geändert (Regionaler Flächennutzungsplan) bzw. aufgestellt (Bebauungsplan) werden können. Diese sind wiederum notwendige Grundlage für die Erteilung einer Baugenehmigung. Obwohl die Dezernate Landwirtschaft, Regionalplanung, Verkehr und Naturschutz des RP Darmstadt zahlreiche Bedenken gegen die Zulassung der Abweichung anführten, beschloss die Regionalversammlung mit den Stimmen der Fraktionen von SPD, CDU, FDP sowie den Stimmen der Vertreter von Uwiga und der ÜWG die Zielabweichung.

Der BUND Hessen hatte am 13.12.2017 Klage gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums für die Zielabweichung vom »Regionalplan Südhessen / Regionalen Flächennutzungsplan 2010« durch die Stadt Wölfersheim eingelegt.

In dem nun in dritter Instanz anhängigen Rechtsstreit entschied der Verwaltungsgerichtshof Kassel als Berufungsinstanz zuletzt, dass Umweltverbände kein Klagerecht gegen Zielabweichungsverfahren hätten. Er ließ aber zugleich zur Klärung dieser Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung die Revision zu, die nun am 28.09.2023 vor dem Bundesverwaltungsgericht verhandelt wird.

 

3. Welche rechtlichen Überlegungen spielen bei der Verhandlung am 28.09.2023 eine Rolle und welche Konsequenzen haben diese?

Da anerkannte Vereinigungen ein Klagerecht bei der Aufstellung oder Änderungen von Regionalplänen haben, ist zum einen die Frage zu klären, ob die Entscheidung über eine Zielabweichung zumindest im konkreten Einzelfall eine (teilweise) Änderungen des Regionalplans bedeutet. Wäre das der Fall, dann wäre durch die Zielabweichung das Klagerecht des BUND Hessen rechtswidriger Weise umgangen worden. Diese Frage kann nur beantwortet werden, wenn die Gerichte sich mit den Inhalten der Zielabweichung beschäftigen. Dies ist bislang nicht erfolgt.

Darüber hinaus geht es auch um die Frage, ob dem BUND als anerkannter Umweltvereinigung nicht ohnehin schon ein Klagerecht auf Basis der unionsrechtlichen Grundrechtecharta in Verbindung mit der sog. Aarhus-Konvention hat bzw. haben muss. Denn danach ist anerkannten Vereinigungen ein generelles Recht auf Verfahrensbeteiligung und auf Rechtsbehelfe zu Vorhaben, die die Umwelt und Natur betreffen, jedenfalls soweit es um Umweltrecht der Europäischen Union geht, eingeräumt bzw. einzuräumen. In der ersten Verhandlung am 08.11.2022 sah das Bundesverwaltungsgericht noch keine konkreten Anhaltspunkte dafür, die diesbezüglich vom BUND vorgetragenen Argumente positiv zu würdigen oder eine Vorlage von Fragen zur Auslegung des Unionsrechts an den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg in Betracht zu ziehen.

Das am selben Tag, dem 08.11.2022, ergangene und im Nachgang zur mündlichen Verhandlung beim BVerwG bekannt gewordene Urteil des EuGH in der Sache C-873/19 führte dazu, dass das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidungsfindung vertagte und die Beteiligten des Verfahrens um Stellungnahme zu den Auswirkungen dieser EuGH-Entscheidung auf das hier anhängige Streitverfahren gebeten hat. Im Urteil des EuGH (Sache C-873/19) war eine unzureichende Ausgestaltung der Rechtsschutzmöglichkeiten nach dem nationalen Umweltrechtsbehelfsgesetz erkennbar geworden, die weit über den entschiedenen Fall hinaus Bedeutung hat. Das Urteil könnte auch unmittelbare Auswirkungen auf das Verfahren des BUND Hessen haben.

Davon geht der BUND Hessen insbesondere nach einem weiteren Urteil des EuGH vom 09.03.2023 in der Sache C-9/22 aus: Durch einen in diesem Urteil erstmals klar formulierten und allgemeinen Rechtsgrundsatz sieht sich der BUND Hessen in seiner Auffassung bestätigt, dass eine Abweichung von einem Regionalplan generell ohne strategische Umweltprüfung oder wenigstens Vorprüfung nicht mit den Vorgaben der SUP-Richtlinie vereinbar ist. Findet diese Auffassung beim Bundesverwaltungsgericht Gehör, dann bleibt nur die Aufhebung der Zielabweichungsentscheidung. Denn Regelungen, die eine verfahrensrechtliche Einbindung der Vorgaben der SUP-Richtlinie bei Zielabweichungsverfahren ermöglichen, sind in Deutschland nur für besondere Fälle vorgesehen, fehlen indes für die weitüberwiegende Zahl der Zielabweichungsfälle, zu denen die hier Streitige gehört. Der Gesetzgeber dürfte dann erneut gefordert werden, sein Regelungswerk zur Umsetzung der SUP-Richtlinie anzupassen. Für das Rewe-Logistikzentrum würde das zunächst zu einem vorläufigen Aus an dem vorgesehenen Standort führen.

 

 

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